Daten verstehen statt nur erkennen: Wie LLMs die Datenextraktion im Schadenmanagement transformieren

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Versicherungswirtschaft.

Für Versicherer ist das Schadenmanagement ein komplexer und entscheidender Prozess – insbesondere mit Blick auf Kundenbeziehung und Kosten. Der gezielte Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in Form von Large Language Modellen (LLMs) kann hier eine entscheidende Lücke schließen und die Effizienz der Datenextraktion auf ein neues Level heben.

Philipp Schäfer, Managing Director Eucon Digital, Foto: Eucon

Ein Autofahrer, nennen wir ihn Herr Meier, hat einen leichten Auffahrunfall. Das Wichtigste: Niemand ist verletzt. Noch am selben Abend meldet er den Schaden mit wenigen Klicks über das Smartphone im Kundenportal seines Versicherers. Soweit ein reibungsloser Vorgang mit klarer Benutzerführung und intuitiver Upload-Funktion für Dokumente und Fotos.

Dennoch gibt es Tage später Rückfragen seitens der Schadenabteilung: Die Werkstattrechnung enthält Unklarheiten. Dabei, so wundert sich Herr Meier, hat er doch eigentlich alle relevanten Informationen eingereicht. Zwar stehen die Daten digital bereit, aber nicht vollumfänglich in strukturierter Form oder im richtigen Kontext. Daher müssen Sachbearbeitende weiterhin manuell Dokumente prüfen, Inhalte interpretieren, relevante Informationen auslesen und diese anschließend in andere Prozesssysteme übertragen.

Tatsächlich endet die Automatisierung häufig dort, wo Dokumente in freier Textform oder als Bilder vorliegen. Zwar erkennt moderne Software bereits zuverlässig Text aus solchen Dateien – selbst aus Fotos oder Scans –, aber sie „versteht“ den Inhalt nicht: Welche Textstellen sind wirklich relevant? Ist die Werkstattrechnung vollständig? Gehört die genannte Lackposition zu der im Schadenbericht beschriebenen Kollision – oder stammt sie aus einer früheren Reparatur? Und wie viele dieser Informationen müssen aktuell noch mühsam abgeglichen, ergänzt oder korrigiert werden, bevor eine finale Entscheidung getroffen werden kann? 

Softwaregestützte Schadenerfassung ist längst noch nicht datenintelligent

In der Vorstellung von Herrn Meier wäre das digitale Erlebnis im Schadenfall weniger manuell. Zwar bieten Versicherer ihren Kunden in vielen Fällen eine nahezu vollständig digitale Kundenreise: von der Meldung eines Schadenfalls bis zur Auszahlung. Doch an vielen Stellen fehlt es immer noch an echter Automatisierung durch durchgängige Prozesse. Denn trotz digitaler Eingabeformulare und elektronischer Akten lag der größte Engpass im Fall von Herrn Meier in der Verarbeitung der eingereichten Informationen – insbesondere bei unstrukturierten Daten wie PDFs, E-Mails oder Fotos mit Textinhalten.

Dabei ist die Datenextraktion seitens des Versicherers zwar nur ein einzelner Teilschritt in der gesamten Schadenkette – aber ein zentraler: Sie bildet die Grundlage für alle nachgelagerten Prüf-, Entscheidungs- und Steuerungsprozesse. Fehlt hier die nötige Struktur und Einordnung, geraten selbst digital gestartete Prozesse schnell ins Stocken.

Obwohl Herrn Meiers Versicherer KI-gestützte OCR-Systeme (Optical Character Recognition) einsetzt, scheitert die Automatisierung daran, dass Informationen entweder nicht erkannt oder aus der Kalkulation zwar ausgelesen, aber nicht dem Schadenkontext zugeordnet werden können – etwa welche Positionen zu welchem Fahrzeugteil gehören oder ob sie plausibel zum gemeldeten Schadenhergang passen. Der Fall zeigt: Trotz digitaler Nutzerführung ist die nachgelagerte Verarbeitung nur teilautomatisiert – und erfüllt damit, siehe die notwendigen Nachfragen, nicht die Erwartungen an ein nahtloses, modernes Kundenerlebnis.

Genau hier setzt die nächste Evolutionsstufe an: die Kombination von bewährter optischer Zeichenerkennung mit fortschrittlicher KI, wie LLMs, die viele Kunden inzwischen von Chatbots wie ChatGPT kennen. Sie könnte die beschriebenen Medienbrüche künftig aufheben und über das bloße Erfassen hinaus eine durchgängig automatisierte Weiterverarbeitung von Schadendaten ermöglichen. Solche künstliche Dokumentenintelligenz wäre für Versicherer ein großer Sprung, um im Moment of Truth noch kundenfreundlicher, effizienter und wirtschaftlicher zu sein.

LLMs als Fortschritt in der intelligenten Datenextraktion

Doch was leisten die Technologien und wie sieht ihr Zusammenspiel konkret aus? Die bereits im Einsatz befindliche OCR-Technologie ist eine bewährte Methode zur Texterkennung in gescannten Dokumenten. Sie erkennt einzelne Buchstaben in gedruckten und vielfach sogar handschriftlichen Texten und wandelt diese in digitale, maschinenlesbare Formate um. Das ist besonders im Schadenmanagement für Versicherer nützlich, wo Dokumente unterschiedlicher Formate wie Schadenberichte, Bilder, Rechnungen, E-Mails und Policen verarbeitet werden müssen.

Durch die Kombination von LLMs und intelligenter Prozesssteuerung eröffnen sich neue Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung. Künftig wandeln Systeme digital eingereichte Textdokumente zunächst in durchsuchbare, strukturierte Textdaten um. Im nächsten Schritt interpretieren LLM-Analysetools diese Inhalte im Rahmen eines KI-Workflows, um daraus strukturierte Informationen zu extrahieren und kontextbezogen einzuordnen. Sie erkennen Schlüsselinformationen und lesen gezielt Datenpunkte wie Namen, Adressen, Schadenarten oder Schadensummen aus Dokumenten wie beispielsweise Schadenberichten aus.

Vom Text zur Bedeutung: Was LLMs besser können

Klassische LLMs verarbeiten dabei primär Texte in natürlicher Sprache und erkennen relevante Inhalte auch in komplexen, unstrukturierten Formaten. Neuere, multimodale Modelle gehen noch einen Schritt weiter: Sie verarbeiten nicht nur Text, sondern auch Bilder, Audiodateien oder Videos und können so komplexe Zusammenhänge besser erfassen. Sie erkennen visuelle Strukturen wie Tabellen oder Überschriften, beziehen grafische Inhalte sinnvoll in ihre Analyse ein und interpretieren den Kontext ganzheitlich. Damit erweitern sie das Einsatzspektrum intelligenter Automatisierung im Schadenmanagement erheblich – auch wenn ihre Ergebnisse, wie bei allen KI-Systemen, mit fachlicher Sorgfalt validiert werden müssen.

Im Fall von Herrn Meier könnte das Sprachmodell die Werkstattrechnung im Zusammenspiel mit dem Schadenbericht, der Fahrzeughistorie, ergänzenden Bildern und historischen Daten analysieren. Es erkennt, dass eine Lackierung am hinteren Stoßfänger thematisch zur gemeldeten Heckkollision passt – während eine Reparatur der vorderen rechten Tür eher auf einen früheren Schaden hindeutet. Damit wird klar: LLMs erfassen nicht nur einzelne Begriffe, sondern verstehen deren Bedeutung im jeweiligen Kontext. Sie helfen, scheinbare Unklarheiten zu klären, Rückfragen zu vermeiden und Entscheidungen schneller und fundierter zu treffen.

In bestehende Schadenmanagementsysteme als KI-Workflow integriert, wird die rasch zunehmende Leistungsfähigkeit von LLMs künftig ermöglichen, Schadendaten nahtlos weiterzuverarbeiten. Diese tiefgreifende Prozessautomatisierung reduziert manuelle Aufwände, minimiert Fehlerquellen und steigert die Genauigkeit und Verlässlichkeit der Daten – und entlastet zugleich die Sachbearbeitenden. Das markiert eine neue Stufe der Automatisierung und Interaktion.

LLMs als Ergänzungstechnologie, nicht als Ersatz im Schadenmanagement

Noch gibt es Hürden beim Einsatz von LLMs, die jedoch mit der aktuellen Entwicklungsgeschwindigkeit rasch weniger werden. Sprachmodelle generieren mitunter Inhalte, die plausibel erscheinen, aber nicht mit den Ausgangsdaten übereinstimmen – sogenannte Halluzinationen. Zudem fehlt ihnen eine eingebaute Validierung, weshalb extrahierte Informationen nicht automatisch auf Richtigkeit geprüft werden können. Eine fachliche Kontrolle durch menschliche Fachkräfte bleibt daher bislang notwendig – insbesondere um zu prüfen, ob die KI Inhalte ergänzt hat, die im Originaldokument nicht enthalten sind.

Große Sprachmodelle sind damit kein vollständiger Ersatz im Schadenmanagement, sondern eine hochwirksame Ergänzungstechnologie, die mithilfe von Menschen und historischen Daten rasch für den professionellen Einsatz ausreifen und ihre effizienzsteigernde Wirkung ausspielen dürfte. Damit schaffen LLMs eine hochwertige Datengrundlage für nachgelagerte Prozesse – etwa für die automatisierte Belegprüfung, die tiefergehende Analyse der Schadenakte oder die finale Entscheidung zur Auszahlung. Die daraus resultierende weitere Automatisierung reduziert manuelle Prüfaufwände, minimiert Fehler und erhöht die Genauigkeit und Verlässlichkeit der Daten signifikant.

Zukünftig werden autonom agierende KI-Agenten eigenständig Prozesse im Schadenmanagement anstoßen, steuern und abschließen – auf Basis extrahierter Daten, vordefinierter Regeln und kontinuierlichem Feedback aus dem System. LLMs spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie es den Agenten ermöglichen, unstrukturierte Informationen semantisch zu verstehen, natürliche Sprache zu verarbeiten und Entscheidungen kontextbezogen zu treffen. Trotz dieser Fortschritte bleibt menschliche Kontrolle weiterhin essenziell, um die Qualität der Entscheidungen zu sichern.

Fazit und Ausblick

LLMs eröffnen neue Potenziale im Schadenmanagement. Ihr Mehrwert liegt vor allem in der Entlastung von Sachbearbeitenden, der Beschleunigung von Prozessen und der Verbesserung der Datenqualität – vorausgesetzt, ihre Ergebnisse werden mit fachlicher Sorgfalt überprüft und sinnvoll in bestehende Abläufe integriert. Der eigentliche Fortschritt entsteht dabei durch die semantische Analyse unstrukturierter Informationen: LLMs bringen Verständnis, Kontext, Verknüpfung und Geschwindigkeit in die Datenverarbeitung. Perspektivisch ermöglichen gut trainierte KI-Agenten eine weitgehend autonome Schadenregulierung.

Setzen Versicherer auf durchdachte Prozesssteuerung, moderne LLMs mit tiefem Fachwissen sowie auf eine gewachsene Datenbasis, können sie ihre Schadenprozesse durchgängig digitalisieren und erheblich beschleunigen. Für Kunden wie Herrn Meier bedeutet das: weniger Rückfragen, eine zügigere Schadenregulierung und ein deutlich besseres Serviceerlebnis.